Der Wachenheimer Hexenstein und seine Bedeutung
(Übertragen und aufgearbeitet von Friedrich J. H. Klos,
Wachenheim im April 2003)
Novelette über die „Hexenkäth von Wachenheim“ aus der
Pfälzischen Landesbiliothek Speyer.
Die Novelette über die „Hexenkäth von Wachenheim“ von K.
Rauschdrescher-Lambrecht
ist abgedruckt in:
Die Pfalz (Sonderbeilage des Pfälzischen Kurier) Nr. 31 vom
Samstag, den 31. August 1935, Seiten 1 – 3 (Signatur: Palat 243/1935).
War vieles berichtet uns die Geschichte von
Stadt und Burg Wachenheim. Von frohen und trüben Zeiten, festlichen Tagen und
Jahren der Not weiß sie zu erzählen und es scheint, als könnte das frohe
Leuchten, das über der Geschichte liegt, niemals ausreichen, dem Düster vergangener
Schreckenszeiten den Rang streitig zu machen.
Aber eine einzige Stunde der Freude im Menschenleben wiegt immer ein volles
Jahr des Leides auf und nur die Erinnerung bleibt. Oft aber auch gehen
Aufzeichnungen über Ereignisse verloren, oder aber man findet ein Geschehnis
nicht des Aufschreibens wert, oder auch man freut sich, dass es vorüber ist,
will nicht mehr daran erinnert werden und versucht möglichst schnell zu
vergessen. So scheint es auch mit jener Geschichte zu sein, von der ich im
Nachstehenden erzählen will.
Droben beim „Hexenstein“, zu dessen Füßen sich gar herrlich das Städtchen
ausbreitet und uns gleichsam das fruchtreiche und weinduftende Gelände rundum
heraufreicht, habe ich einmal ein altes, verhutzeltes Weiblein beim Holzsammeln
getroffen und dieses hat mir Bruchstücke der sonderbaren Geschichte eines
Mädchens erzählt.“
Ein schwüler Vorsommertag des Jahres 1689 hatte sein Ende erreicht. Die
Franzosen waren schon den ganzen Winter über in der Pfalz in Quartier gelegen
und nun hieß es, dass alle Städte und Dörfer, alle Weiler und Schlösser von
ihnen in Brand gesteckt und dem Erdboden gleichgemacht werden sollten.
Auf der Wachtenburg hatte eine Anzahl französischer Offiziere Quartier bezogen.
Von hier aus ließen sie ihre quälenden Befehle, räuberische Überfälle und alles
vernichtende Plünderungszüge über das Land rundum ergehen.
Nichts war vor ihnen sicher. Die armen Bewohner von Wachenheim und der Dörfer
rundum hatten kaum noch so viel, das nackte Leben fristen zu können. Auf der
Burg aber wurden täglich Feste gefeiert und was man den Landleuten mörderisch
erpresst hatte, wurde im Festestrubel verschleudert. Der Wein floß in Strömen
und tagtäglich hörte man, dass auch Mädchen und Frauen aus den Dörfern von
irgendeiner Soldatenrotte aufgegriffen und nach der Burg geschleppt worden
seien, um dort zur Unterhaltung einer ausschweifenden Offiziersbande zu dienen.
Besonders der Kommandant der französischen Marodeure, ein Obrist, der sehr gut
deutsch sprach, erfand täglich neue Mittel, Stadt und Land seine Macht fühlen
zu lassen. Man erzählte sich sogar in Wachenheim, er sei ein Deutscher und
seine Eltern hätten sogar in der nächsten Nähe gelebt. Offen aber wagte niemand
diese Vermutung auszusprechen, aus Furcht vor der Rache des rücksichtslosen Menschen.
Im Turmgeschosse des festen Hauses der Blarer von Geiersberg, unweit der Kirche
zu Wachenheim, saßen an diesem Abend die Knechte und Mägde der geflüchteten
Herrschaft in trüber Stimmung beisammen. Täglich mussten sie aus dem
Herrschaftskeller die besten Weine auf die Burg hinaufführen und auch die
Ställe waren bereits geleert und die Feldfrüchte auf ein geringes Restchen
abgeliefert und von den Welschen aufgezehrt. Nur träge schlich sich das
Gespräch durch das abendliche Zwielicht der Turmstube.
Zitternd und Unheil ahnend schmiegten sich die Mägde in die dunkelsten Ecken.
War doch seit gestern Nachmittag auch eine aus ihrem Hause spurlos verschwunden
und zwar die Jüngste, kaum 19 Jahre alt und ein Waisenkind, das, wie man
erzählte, vor Jahren in einer Höhle mitten im Walde gefunden worden war.
Niemand wusste, wo das Mädchen, das keinerlei Furcht kannte, plötzlich
hingekommen sein könnte. Man ahnte nur, dass sie von irgendeiner schweifenden
Rotte aufgegriffen und irgendwohin, vielleicht sogar auf die Burg geschleppt
worden sei. Einige hatten in der Stadt auch schon angedeutet, sie könne
freiwillig mit den Franzosen gegangen sein, denn ihre Familie sei eben solche
eine Gesellschaft gewesen und – vielleicht habe es sich bewahrheitet, dass der
Kommandant der Welschen auf der Burg droben ihr Bruder sei und sie sei nun zu
diesem als Hausdame.
Plötzlich pochte es an der schweren Eichentür des Turms. Jäh verstummte das
müde Gerede der Knechte und Mägde. Noch einmal, diesmal nachhaltiger, klopfte
es und gleichzeitig rief eine weibliche Stimme in gedämpften Tone:
„Macht auf, - ich bin´s -, die Käth! Hab was gegen Hunger und Durst!“
„Die Hexenkäth!“ kam es von den Lippen aller.
Der alte Torhüter, der Simon, sprang auf und schob langsam den schweren Eisenriegel
zurück. Im Türrahmen erschien ein kräftiges, junges Weib. Unordentlich hingen
ihr die Kleider um den stattlichen Leib. Auf dem stark zerschundenen linken Arm
trug sie eine Anzahl Brote und ein großes Stück Dürrfleisch, während sie in der
rechten Hand eine große Holzstütze mit Wein schleppte.
Die Stütze überreichte sie sofort dem alten Simon, während sie die Brote und
das Fleisch langsam auf den schmalen Tisch gleiten ließ. Dann schob sie züchtig
das gerutschte Mieder bis zum Hals und band die zerrissenen Träger zusammen,
strich sich hierauf mit zitternden Händen das zersauste Haar aus der Stirn und
Augen und atmete tief auf.
Wie hungrige Wölfe fielen die Menschen in der Stube über die Brote her und die
Messer schlüpften knirschend in das feste Stück des Fleisches. In ihrem Hunger
hatten sie vergessen, das Mädchen zu fragen, wo es seit gestern gesteckt und
woher es eigentlich die Lebensmittel gebracht habe. Erst als der alte Simon
einige Male kräftig an der Weinstütze gezogen hatte, frug er schmatzenden
Mundes, sich mit dem Handrücken das Fett von dem grauen Schnurrbart strechend,
nach diesen Dingen.
„Geht Euch nix an“, antwortete diese auf die Anfrage des Alten. „Laßt´s Euch
schmecken und kümmert Euch nit weiter um mich. Bin doch bloß die Hexenkäth und
weiß nun, was man mir so lange nit sagen hat getraut! Ha, ha, ha!“ lachte sie
schrill dabei auf, und ihre Augen leuchteten im Düster des Turmes wie zwei
grünliche Lichter, während die weißen Zähne wie Perlen zwischen den blutroten
Lippen gleißten. „Weiß jetzt, dass mein Urahn ein Hexer war und Bräuning hieß,
weiß auch, dass mein Ahn sich auf allerhand Dinge verstand, die andere nit
kannten und weiß auch, dass mein Vater droben am Bräuningfelsen begraben liegt
neben meiner Mutter, und dass der Stein von ihm seinen Namen hat. Mich hat man
als Wickelkind in dies Haus genommen.
Aber getraut hat man mir wohl auch noch nit Recht.
Und jetzt soll gar noch mein leiblicher Bruder droben auf der Burg der Offizier
sein und seine eigenen Landsleute so mörderisch schinden im Namen des
allerchristlichen Königs der Welschen! Hab alles raus gebracht und es ist so.
Er ist mein Bruder, nennt sich aber mit einem verwelschten Namen.
Ich war bei ihm, um ihn für die Stadt zu bitten, die verbrennt werden soll.
Aber der will von einer Hexenkäth nix wissen und hat mich, seine eigene
leibliche Schwester, als deutsches Mädel wollen seinen welschen Hunden zum
Spiel lassen. Hab´s ihnen aber versalzen, das Spiel. Und das sag ich Euch“,
dabei erhob sie sich inmitten der Turmstube und ihre Gestalt schien ins
unermessliche zu wachsen, „meinem sauberen Herrn Bruder werd´ ich für seine
Vaterlandsliebe einen Salut schießen, dass ihm die Ohren gellen werden. Ihr
aber sagt den Leuten, die Hexenkäth ist keine Verräterin und kann nit hexen, aber
den Verrat und die Untaten ihres Bruders rächen! Morgen um diese Zeit wisst ihr
mehr!“
Die Knechte und Mägde lauschten und ein Gruseln glomm ihnen über den Rücken,
als sie bemerken mussten, dass im gleichen Moment das Mädchen aber auch schon
wieder aus ihrer Mitte verschwunden war. Man suchte sie im Hause und Hofe, in
den Ställen, Scheuern und Kellern. Nirgends war eine Spur von ihr zu entdecken.
Als hätte die Erde sie erst ausgespieen und dann wieder verschlungen, so
unheimlich war sie gekommen und wieder verschwunden. Am nächsten Tage aber lief
wieder so manches Gerede über die Verschwundene durch das Städtchen und machte
die Spannung, die über allen Gemütern lag, noch unheimlicher. Als dann gegen
Mittag bekannt wurde, dass die Einwohner mit dem, was sie mitnehmen könnten,
auszuziehen hätten, da war wohl die Hexenkäth vergessen, aber das Gerede über
ihren sauberen Bruder nahm unheimlich zu.
Bald lagen die Straßen voller Fliehenden. Viele auch wollten nicht von ihrer
Heimat lassen und zogen es vor, mit ihren kargen Bündelchen den Weg auf die
Berge und in die Wälder zu nehmen. Weinen und Wehklagen erfüllte die Luft.
Auf der Burg oben aber feierten die Herren Welschen wieder eines ihrer
besonderen Feste. Der Wein floß in Strömen. Man zechte und lärmte, tanzte und
schrie. Französische Offiziere aus der ganzen Gegend waren mit ihren Mätressen
und Damen gekommen, hatte doch der stets erfinderische Herr Obrist, der
Wachenheimer Besatzung ihnen angekündigt, dass als Endeffekt des Festes die
Stadt Wachenheim als großartiges Feuerwerk abgebrannt werden würde. Toll ging
es zu auf der Burg. Im lauwarmen Maitage saßen die Herrschaften in den Gärten,
im Zwinger und auf den Terrassen der Burg, sangen und tranken.
Plötzlich aber und mitten in dem unerhörten Festtaumel erschütterte ein
unheimliches Getöse die Luft. Die Erde erzitterte, so dass manche wackeligen
Häuslein hinter der Wachenheimer Stadtmauer in sich zusammenknickten. Aus dem
mächtigen Bergfried der Wachtenburg aber stieg eine unheimliche Stichflamme zum
Himmel empor und es schien, als wolle sie die spärlichen Wolkenfetzen, die dort
oben im leichten Nordwestwind wanderten, mit züngelnder Glut versengen. Ein
einziger gräßlicher Schrei aus Staub und Pulverdampf hüllte den breiten Rücken
des Burgbergs in unheilschwangere Schwaden.
Verstört, zum Teil mit Wunden bedeckt, unheimlichen Blickes nach der Burg
zurückblickend, rannten französische Soldaten zu Tal.
Auch eine Frauengestalt löste sich aus der schwärmenden Wolke und flog mit
aufgelöstem Haar und unter unheimlichem Lachen über die Höhe gegen das Burgtal,
verfolgt von einigen wild schreienden Soldaten. Auf der der Burg gegenüber
liegenden Höhe erreichte einer der Verfolger das fliehende Weib. Nach kurzem
Wortwechsel bohrte er den blanken Stahl seines Säbels in den vor Aufregung wild
wogenden Busen der Gehetzten, die lachend in sich zusammensank mit dem Rufe:
„Grüßt mir Euren sauberen Herrn Obristen und sagt ihm, seine Schwester habe ihm
dies Feuerwerk angezündet zum Dank und in Anerkennung seiner Schurkerei und
seines Heimat- und Vaterlandsverrates!“
Bestürzt starrten die französischen Soldaten auf die nun wie tot Liegende und
verließen dann, gegen die Stadt zu, die Höhe.
Aus dem Walde aber schälten sich langsam einige Wachenheimer, die mit ihren
Habseligkeiten in diese Büsche geflüchtet waren, um hier abzuwarten, welches
Ende das Grauen dieses Tages nehmen würde. Bis herüber zu ihnen waren Steine
und Mörtelbrocken geflogen bei der gewaltigen Explosion auf der Burg. Sie
wussten nicht, was dies zu bedeuten habe und wunderten sich nicht wenig, in der
nun hier mit einer grässlichen Todeswunde liegenden Frau die Hexenkäth zu
erkennen.
Unten stiegen die ersten Feuersäulen und Rauchwolken aus den angezündeten
Häusern der Stadt Wachenheim und der Haupttrupp der wütenden Zerstörer
deutscher Städte und Dörfer zog gen Forst zu, aus welchem bald darauf ebenfalls
Feuerbrände zum Himmel stiegen.
Weinend standen die armen Wachenheimer auf der Höhe und blickten erstarrt in
das glühende Wabern und Flackern ihrer bisherigen Heimat, von der sie so jäh
vertrieben waren.
Da öffnete die Hexenkäth noch einmal die brechenden Augen und ließ sich von
einem der Männer mit dem Rücken gegen einen Stein lehnen. Sitzend schaute sie
hinunter auf die brennende Stadt und dann hinüber zur zerstörten Wachtenburg,
von der nun auch der Pulverdampf auf die Staubwolke zerstoben war. Von der so
stolzen und starken Burg stand nichts mehr als ein paar spärliche Reste und die
westliche Hälfte des uralten Bergfriedes. Und nun erzählte die sterbende
Jungfrau den um sie stehenden Männern, Frauen und Kinder, wie sie erst ihren
Bruder um Schonung der Stadt gebeten und was sie auch ihren Mitbediensteten am
Abend vorher schon erzählt hatte. Heute aber habe sie sich wieder in die Burg
geschlichen, habe dort die Wächter bei der Pulverkammer mit einem Kräutersafte
betäubt und dann den Feuerbrand in das gefährliche Verließ geworfen. Wie durch
ein Wunder war sie aus all dem Hagel von Steinen und Trümmern entkommen. Aber
man hatte sie gesehen und einige der Soldaten hatten gewusst, dass nur sie die
Entzündung des Pulvers veranlaßt haben konnte. Darum hatte man sie verfolgt und
hier erstochen.
So starb die Hexenkäth von Wachenheim in den Armen eines alten Winzers, der ihr
bewegten Herzens die Augen zudrückte. Die armen Flüchtlinge gruben an der
gleichen Stelle ein Grab und legten das tote Mädchen hinein. Ein aufrecht
stehender Stein zeigt heute noch die Stelle und der Volksmund hat dem Stein den
Namen „Hexenstein“ gegeben.
Drüben über dem Tale auf der jenseitigen Höhe aber liegt der Bruder dieses
Heldenmädchens unter dem Schutte und den Trümmern der alten Wachtenburg
zerschlagen und begraben und mit ihm Hunderte seiner Festgäste. Sie alle hatten
ihre Strafe gefunden für das Weh und Leid, das sie in den letzten zehn Jahren,
als Franzosen und welsche Söldlinge eines Unheil säenden Königs und seines
unheimlich grausamen Ministers und Berater, über ein unschuldiges und fleißiges
Volk ausgeschüttet hatten. Der Heimat- und Volksverrat des letzten Bräunig, der
vom armen Waldbuben zum Obristen aufgestiegen war, war durch seine eigene
Schwester gerächt.
Einem mächtigen Schwurfinger gleich reckt sich so seit jenen Tagen die noch
stehende Hälfte des einst so mächtigen Bergfriedes der Wachtenburg aus den
zerfallenen Resten einstiger Herrlichkeit zum Himmel, ein Mahnmal der
Heimatliebe und Treue zum Volke, für die ein ganz armes, gehetztes und
verachtetes Mädchen ihren verräterischen Bruder und sich selbst zum Opfer
brachte.